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Aus der Röhre gucken
Foto: Volker Beushausen

Aus der Röhre gucken

Lesedauer: ca. 3 Min. | Text: Martina Plum

Schlafen in einer Kanalisationsröhre? Das geht seit dem 14. Mai auch am Hof Emscherauen. Unsere Autorin Martina Plum hat die erste Nacht im Röhrenhotel verbracht.

Kurzurlaub, Alltagsflucht nicht weit weg, vor der Haustür und mit dem Rad erreichbar geht mir beim Gedanken durch den Kopf, eine Nacht an den Emscherauen zu verbringen. Aber in einem Abwasserkanalrohr? Wie soll das denn gehen? Direkt am Hof Emscherauen, genau an der Stadtgrenze zwischen Dortmund-Mengede und Castrop-Rauxel-Ickern liegen die Röhren des Parkhotels „Inside-Outside“. „Gastfreundschaftsgeräte“ nennt Andreas Strauss sie. Der Künstler hat sie im Rahmen des Emscherkunstweges der Regionalverbandes Ruhr und der Emschergenossenschaft gestaltet. Die hatte in den vergangenen Jahren über 35.000 solcher Abwasserrohre verlegt, um die Abwässer aus dem einst stinkenden Industriefluss unterirdisch fließen zu lassen. Jetzt holt man die Emscher als Mitmachfluss hervor, und freut sich über das, was man einst in der Schmuddel- ecke gemieden hat.

17 Uhr:
Bereits von weitem sehen wir die Auenlandschaft. In unmittelbarer Nähe steht der Pavillon, der Hügel, in dem sich die Vögel im Hochwasserrückhaltebecken unbeobachtet anschauen lassen. Mit
dem Fernglas gibt es hier viele neue Bewohner zu entdecken. Mittlerweile gehen die letzten Gäste des Eröffnungsfestes und wir können ausgerüstet mit der PIN unser kleines Hotel – mitten im Grünen – beziehen. Das Bett ist frisch bezogen, die Einrichtung ist karg, aber völlig ausreichend. Auch zu zweit. Ich kann meine Jacken aufhängen, es gibt eine kleine Lampe und vom Bett aus kann ich durch ein Guckloch in den Himmel schauen.

21 Uhr:
Es kommen noch ein paar Gäste vorbei, die alle nicht so richtig glauben wollen, dass wir hier wirklich allein übernachten. In der Zwischenzeit haben wir uns gemütlich eingerichtet, den Toilettenwagen mit eingebauter Dusche begutachtet. Alles bestens. Was soll da schon noch schiefgehen?

22:30 Uhr:
Seit einer halben Stunde dämmert es und wird ruhiger. Alle Gäste sind weg, und wir bleiben draußen noch lange sitzen. Der letzte Fahrradfahrer streut sein Licht durch die Emscherauen, die Spaziergänger mit ihren Hunden sind längst auf ihrer heimischen Couch.

23:40 Uhr:
Die Frösche im Rückhaltebecken werden immer emsiger und lauter. Wir suchen dann schon mal nach den Taschenlampen – für den Fall der Fälle. Jetzt wird es Zeit. Jede von uns kriecht in
ihre Röhre. Die Angst, sich zu beengt zu fühlen, erledigt sich von selbst. Der Blick aus dem oberen Guckloch weitet den Horizont. Im Gegenteil: Ich fühle mich in meiner Röhre abgeschirmt und sicher, wie in einer sicheren Höhle mitten im Draußen. Okay, der nächtliche Gang zu den Toiletten ist zuhause erheblich kürzer, aber dafür bekomme ich hier draußen ein kleines Abenteuer. Und in der Röhre ist das Bett so warm, dass ich bestens schlafe.

4:48 Uhr:
Ich höre die ersten Schritte draußen. Draußen ist es so kalt, dass ich die Decke um die Schulter brauche. Und dann kommen die Schritte direkt auf mich und meine Behausung zu. Es ist meine Nachbarin Uschi Kirsch, die das Abenteuer gestern mit eingegangen ist. Wir kochen uns mit dem Tauchsieder einen Kaffee; Steckdosen sind vorhanden. Zeit, den Vögeln zu lauschen. Dahinten singt ein ganzer Chor und weiter rechts trällert ein einzelner, zwar noch ein wenig fiepsig, aber unüberhörbar. Um 5:38 Uhr wird heute die Sonne aufgehen. Die Probleme, die uns normalerweise umgeben, sind sehr weit weg. Auf dem Handy lese ich, dass die Ukraine den ESC gewonnen haben. So in der morgendlichen Ruhe gehen mir viele Gedanken durch den Kopf. Und das, obwohl die Vögel hier wahre Frühaufsteher sind und uns beiden ihr Konzert bieten. Die Lerche startet mit dem Gartenrotschwanz, kurz danach kommt der Hausrotschwanz, die ledigen Nachtigallen lassen auch in der Nacht nichts anbrennen. 150 verschiedene Vogelarten, die hier Brut- und Rastgebiet gefunden haben, wurden hier von den Naturschützern gezählt. Ich erinnere mich an das, was Andreas Strauss tags zuvor sagte: „Stellen Sie sich ein Hotel als Schließfach vor: einfach und unkompliziert – das sind meine drei Kanalrohre, die einladen zur Vogelbeobachtung.“ Geschützt vor der Witterung oder den Blicken anderer kann ich wiederrum beobachten, still sein und einfach mal nur gucken. Und das an einem Ort, der „umme Ecke“ liegt, schnell erreichbar und ein kleines Abenteuer im Alltag verspricht.

vlnr.:
Marc Frese,
Martina Plum,
Usvchi Kirsch, 80 J.
Abendstimmung im Grünen: Castrop-Rauxelerleben-
Autorin und „Röhrentesterin“
Martina Plum (li.) mit Uschi Kirsch aus der
Nachbarröhre.  | Foto: Volker Beushausen
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