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Ein Füllhorn an Ideen
Gina Reinholz

Ein Füllhorn an Ideen

Lesedauer: ca. 7 Min. | Text: Jakob Surkemper

Titelfoto: Gina Reinholz

Castrop-Rauxels wiedergewählter Bürgermeister Rajko Kravanja über Corona, Gemeinsinn und Visionen.

Herr Kravanja, herzlichen Glückwunsch noch mal zur Wiederwahl in diesen nicht einfachen Zeiten, die noch immer von der Corona-Pandemie bestimmt sind. Wie stehen Sie zu den Maßnahmen von Bund und Ländern, insbesondere Hinsichtlich der Schließung von Gastronomie und Kultureinrichtungen?

Rajko Kravanja: Man kann immer über Einzelmaßnahmen diskutieren, aber es geht ja um die grundsätzliche Frage von Kontaktvermeidungen – nicht um den Theaterbesuch an sich, sondern darum, dass viele Menschen danach noch zusammengestanden, sich unterhalten haben und wir nicht mehr nachvollziehen konnten, wo sich die Menschen infiziert haben. Deswegen sind die Maßnahmen grundsätzlich richtig, und ich begrüße ausdrücklich, dass sie inzwischen bundeseinheitlich gelten.

Eine Lehre aus Corona ist ja: Digitalisierung ist extrem wichtig. Im Sommer gab es den Auftakt zu einer umfangreichen Digitalisierungsstrategie. Was ist seitdem passiert? Vielleicht beschränken wir uns mal auf die drängendsten Bereiche Schule, Handel und Gastronomie.

Wir legen den Schwerpunkt in der Tat jetzt erstmal auf den Bereich Schulen, beginnend mit den weiterführenden Schulen. Da schaffen wir es, bis Anfang nächsten Jahres alle mit der entsprechenden Verkabelung und mit WLAN auszustatten. Bis April ist dann auch das Glasfasernetz komplett, sodass dann auch alle Schulen den Gigabit-Anschluss haben. Das Gleiche passiert dann im nächsten Jahr auch mit den Grundschulen.

Wie sieht es beim Einzelhandel aus? Es gibt ja das Portal CAStropolis. Das ist aber eher ein statisches Verzeichnis ohne Online-Shop und Bestellmöglichkeiten. Passiert da noch was oder gibt es da keinen Bedarf für?

Ich glaube, dass es den gibt, und ich hoffe sehr, dass ich in den kommenden fünf Jahren dazu komme, das Thema voranzutreiben, da es mir wirklich am Herzen liegt. Die Idee ist, ein Castrop-Rauxeler Amazon aufzubauen. Es gibt genug Leute, die bereit sind, beim lokalen Einzelhandel zu kaufen. Aber der Weg zu Amazon ist natürlich viel einfacher, wo ich alle Anbieter auf einen Blick habe. Ich glaube, dass ein solches lokales oder regionales Portal die Zukunft ist. Ich würde gerne ein Pilotprojekt mit den Händlern starten, in dem wir eine gemeinsame Infrastruktur der Warenwirtschaftssysteme aufbauen, um dann ein gemeinsames Portal ins Leben zu rufen. Wenn eine kritische Masse erreicht ist, wird es auch für den Bürger interessant. Das würde ich gerne mit einer Anschubfinanzierung anstoßen. Deswegen gründen wir Anfang 2021 auch eine eigene Wirtschaftsförderungsgesellschaft, die das umsetzen kann.

Genau dafür gab es ja im Sommer Geld mit dem Förderaufruf „Stationärer digitaler Handel“. Haben Sie sich daran beteiligt?

Nein, weil wir erstmal selbst Infrastruktur und personelle Ressourcen für so etwas aufbauen müssen. Es nützt nichts, das anzuschieben, wenn man es zeitlich nicht schafft, es auch weiter zu führen. Auch dafür brauchen wir die Wirtschaftsförderungsgesellschaft.

Müsste man ein solches Portal nicht auch eher mindestens fürs gesamte Vest denken, um die kritische Masse zu erreichen?

Das kann dann ja wachsen. Aber um es zu entwickeln, haben wir mit Castrop-Rauxel genau die richtige Größe, weil wir unsere Händler kennen, sie direkt ansprechen können und es eine hohe Identifikation mit der Stadt gibt. Es nachher auf mehr Städte auszuweiten ist dann ja ein Leichtes.

Diese Ausgabe widmet sich dem Ehrenamt – etwas, das derzeit sicher noch wichtiger geworden ist. Oder wie sehen Sie das? Führt Corona zu einer Stärkung des Gemeinsinns oder eher zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft?

Ich nehme beide Trends wahr. Ich erlebe, dass Menschen wieder zunehmend den Anschluss an Vereine suchen und den Mehrwert für sich erkennen. Der große Trend, weg von den Vereinen, scheint mir zumindest gestoppt. Allerdings engagieren sich Menschen heute eher projektbezogen.

Was gibt es Besonderes im Castrop-Rauxeler Ehrenamt?

Unser Bündnis für Demokratie ist hier sicher eine Erwähnung wert. Ich finde sehr schön, dass wir hier immer schon einen breiten, parteiübergreifenden Konsens gegen Rechtsextremismus hatten. Es hat nie eine Diskussion im Stadtrat gegeben, die das in Zweifel gezogen hätte. Anlässlich der Anschläge in Halle haben sich innerhalb einer Woche 250 Menschen zusammengefunden, die gesagt haben, wir machen einen Sternenmarsch und ein Fest für Demokratie. Das war großartig zu sehen, wie schnell sich die Engagierten der Stadt zusammenschließen können!

Was tut die Stadt, um ehrenamtliches Engagement, insbesondere auch bei der jüngeren Generation zu fördern?

Ein Baustein ist die Wertschätzung. Wir vergeben einmal im Jahr beim Neujahrsempfang die Ehrennadel an langjährig tätige Menschen. Der zweite Baustein ist das Bürgerbudget, bei dem Menschen finanzielle Mittel für Projekte, die die Stadt betreffen, beantragen können. 2020 standen 35.000 Euro zur Verfügung, die ermöglichen, kleinere Dinge umzusetzen. Auch die Sparkasse Vest Recklinghausen hat im letzten Jahr in Castrop-Rauxel 150.000 Euro an Vereine und Verbände ausgeschüttet. Das Dritte ist, dass wir als Stadt mit Dhana Stannek eine Ansprechpartnerin für alle Belange beim Ehrenamt haben. Das können rechtliche Fragen, Unterstützungsleistungen oder schnelle Genehmigungen sein. Ich sage immer: Wir als Stadt können die Straßen und Gebäude bauen, aber das Leben selbst können wir nicht gestalten. Das können die Vereine und Verbände. Wir können dabei nur unterstützen.

Was ist Ihre Vision für Castrop- Rauxel?

Dass wir Vereinbarkeit von Familie und Beruf ernsthaft an allen Stellen leben können. Das bedeutet: qualitativ hochwertige Betreuung für jede Uhrzeit, überall Spielplätze in unmittelbarer Nähe, WLAN an allen Ecken und Enden, so dass ich im Zweifel auch den Laptop mit auf den Spielplatz nehmen kann, Co-Working-Spaces für moderne Familien, flächendeckendes ÖPNV-Angebot vor der Haustüre, so dass ich kein eigenes Auto mehr brauche. Das ist ein ganzes Füllhorn an Ideen, die ich habe.

Lassen Sie uns ein paar Themen etwas konkretisieren. Welchen konkreten Fahrplan haben Sie beim Ausbau der Kinderbetreuung?

Wir werden in den nächsten fünf Jahren fünf neue Kitas bauen, damit wir die Überbelegung runterfahren und wieder mehr über Qualität reden können. Dann wollen wir auch flexibler werden, Stunden ausweiten und so die Vereinbarkeit von Familie und Beruf flächendeckend ermöglichen. Der OGS-Ausbau schließt sich entsprechend an. Als der 2012 anfing, ging man von einem Bedarf von 25 Prozent des Vormittags aus, heute sind es aber eher 80 Prozent.

Auch der Mangel an bezahlbarem Wohnraum für Familien ist ein Thema. Stimmen Sie dem zu, und wenn ja, welche Ideen oder Bemühungen gibt es, hier Abhilfe zu schaffen?

Ausdrücklich. Das merke ich auch in den Zuschriften, die ich erhalte und wo Menschen mir schreiben, „ich würde gern nach Castrop-Rauxel ziehen, ich finde aber nichts“. Deswegen wollen wir den bestehenden Wohnraum von den Quadratmeterzahlen, aber auch energetisch an den aktuellen Bedarf anpassen. Das Zweite ist, neuen bezahlbaren Wohnraum mit viel Grün drum rum zu schaffen.

Gibt es denn überhaupt noch Flächenreserven?

Die gibt es, wobei nicht alle Flächen, die vor zehn, 15 Jahren mal als Wohnfläche ausgewiesen wurden, sich auch als geeignet erwiesen haben. Deswegen überlegen wir gemeinsam mit dem RVR parallel, wo wir im regionalen Flächennutzungsplan noch weitere Flächen für Wohnnutzung ausweisen können.

Gibt es räumliche Schwerpunkte?

Die Gebiete sind breit über das Stadtgebiet verteilt. Konkret gehen in Ickern im Norden kurzfristig 140 Wohneinheiten an den Start. Und natürlich Wohnen an der Emscher im mittleren Teil der Stadt. Wir freuen uns über neue Einwohner!

Ein weiteres Thema, das Sie angehen möchten, ist der Ausbau von Bus- und Bahnlinien und der Radwege. Was genau wollen Sie hier in den nächsten fünf Jahren erreichen?

Das hat Corona auch noch mal gezeigt: Wir einen hohen Bedarf bei Radwegeverbindungen und ÖPNV. Die Gewohnheiten haben sich hier, gerade bei der jungen Generation, stark verändert. Es ist nicht mehr selbstverständlich, direkt mit 18 Jahren den Führerschein zu machen und ein eigenes zu haben. Das war bei mir noch anders. Da müssen wir mehr Geld in die Hand nehmen. ÖPNV ist nicht kostendeckend. Wir sind im Gespräch mit dem Kreis, und ich habe alle Signale so verstanden, dass es in diese Richtung geht: höhere Verdichtung des Taktes, aber an der einen oder anderen Stelle auch neue Verbindungen. Bei den Radwegen sind wir beim Freizeitverkehr schon sehr gut aufgestellt. Probleme haben mir mit der Mobilität von und zur Arbeit bzw. zum ÖPNV. Wir wollen Mitglied im Netzwerk Fahrradfreundlicher Kommunen werden. Deswegen führen wir gerade eine große Untersuchung durch, um die Lücken systematisch zu identifizieren. Wir gucken uns aber auch die bestehenden Fahrradwege an. Das ist bei uns wie generell im Ruhrgebiet eine Herausforderung. Denn durch die dichte Bebauung bestehen kaum Möglichkeiten, Radwege zu schaffen, ohne dem Autoverkehr etwas wegzunehmen, also zum Beispiel aus zwei Spuren eine zu machen zugunsten eines Radweges. Das sind die Fragen, die wir in den nächsten fünf Jahren beantworten müssen.

Wie beurteilen Sie die Anbindungen in die umliegenden Städte?

Das hängt stark davon hab, aus welchen Ortsteil Sie darauf gucken. Die Anbindung aus dem Süden nach Herne und Bochum ist gut, aus dem Norden hingegen nicht, weil es keine direkte Anbindung gibt. Dagegen komme ich aus dem Norden gut ins Vest, was aus dem Süden wiederum schwieriger ist. Da ist durchaus noch Nachholbedarf.

Um Ihre Ziele zu erreichen werden Sie Geld brauchen – Geld, dass Castrop-Rauxel nach Corona sicher noch weniger hat als vorher. Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Wir müssen zwischen den Corona-bedingten Aufwendungen und dem grundsätzlichen Haushalt unterscheiden. Was Ersteres betrifft kommen wir zumindest für dieses Jahr über die Runden, weil es ja auch Kompensationsmaßnahmen von Bund und Land gibt. Beim grundsätzlichen Haushalt steht natürlich die Frage der Altschulden der Ruhrkommunen im Raum. Langfristig ist die Finanzierung der Kommunen durch die sehr schwankende Gewerbesteuer nicht die Zukunft. Wir brauchen stattdessen eine hohe Entlastung bei den Sozialausgaben. Da hat der Bund mit 3,5 Millionen jährlich für unsere Stadt schon einiges getan. Was fehlt, ist die Frage der Altschuldenregulierung. Wir haben 160 Millionen Kassenkredite. Das lässt sich beim derzeitigen Zinsniveau noch ganz gut händeln, aber wenn die Zinsen nur um ein Prozent steigen, dann sind auch die 3,5 Millionen ganz schnell weg. Wir brauchen also den Schuldenschnitt.

Es sind sicher herausfordernde Zeiten derzeit. Bereuen Sie inzwischen ein wenig, dass Sie für eine zweite Amtszeit angetreten sind?

Buergermeister Rajko Kravanja| Foto: Gina Reinholz

Nein, nicht eine Sekunde. Ich gehe wirklich jeden Tag mit einem Lächeln ins Büro. Das Schöne ist, das man morgens oft nicht weiß, was einen erwartet und wann man nach Hause kommt. Das ist auch mal nervig, besonders auch für die Familie, aber ich mag das, weil man an so vielen Stellen gestalten und Menschen helfen kann, dass mir jeder Tag aufs Neue Spaß macht. Gerade in diesen Zeiten oder auch während der Flüchtlingskrise 2015 bin ich unfassbar stolz darauf, was Stadtverwaltung leisten kann. Da guckt keiner auf die Uhr, wenn es drauf ankommt. Alle packen mit an und haben ein Ziel vor Augen. Das ist toll, in so einem Team zu arbeiten!

Wobei können Sie sich momentan am besten erholen und Kraft sammeln für die anstehenden Herausforderungen?

Mit der Familie und meinen beiden Kindern. Die Kleine ist eineinhalb, die „große“ ist vier. Wenn ich mit denen einfach mal eine Stunde Fahrrad fahre – das ist toll! Und wenn ich mal wirklich nur Zeit für mich habe, liebe ich es als gelernter Informatiker, einfach mal ein, zwei Stunden vor dem Rechner zu sitzen und was zu recherchieren oder auszuprobieren.

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